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Bol’voj i malyj pizdec

Ende der 2000-er Jahre kaufte ich auf dem Donezker Flughafen vor dem Heimflug ein Journal, um die Heimreise etwas abwechslungsreicher zu gestalten. Im Kopf geblieben ist ein Artikel der allen Ernstes mit Bol’voj i malyj pizdec überschrieben war.

Pizdec gehört zum russischen Mat‘. Mit russischem Mat‘ kann man ausgehend von drei Basis-Schimpfworten durch Ergänzung von Vorsilben, Ableitungen und Kombinationen eine schier unbegrenzte Anzahl von Verben, Subjektiven, Adjektiven usw. bilden und sich damit relativ eigenständig unterhalten. Unüblich in der Öffentlichkeit und unüblich in der Kommunikation zwischen Mann und Frau wird diese Sprache zur schnellen Übermittlung von Emotionen eingesetzt. Pizdec kann man als Entsprechung des Wortes Konec = Ende verstehen und wird immer dann eingesetzt, wenn etwas vollkommen und schlussendlich vorbei ist.

Erläuterung

Bol‘shoj pizdec

Der Autor des Artikels bezeichnet mit Bol‘shoj pizdec den rein hypothetischen Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung, der durch Kriege, Finanzkrisen oder Naturkatastrophen hervorgerufen werden kann. Nach seiner Darstellung war das Eintreten eines solchen Katastrophenfalls jederzeit möglich. Im Artikel fanden sich für die Bürger russischer oder ukrainischer Großstädte Hinweise, wie man sich auf diese Katastrophen vorbereiten könne. Der Autor empfahl den Bürgern sich auf irgendeinem verlassenen Dorf, nicht zu weit von der Großstadt entfernt, ein altes Haus mit Grundstück zu kaufen. Dieses Haus sollte nicht dem höchsten Komfort entsprechen, sondern mit einfachen Mitteln unterhaltbar sein (Ofen, nicht zwingend fließend Wasser, Garten zum Anbau von Gemüse und Obst). Dieses Haus sollte man mit einem unverderblichen Lebensmittelvorrat ausstatten – alles für den Fall der Fälle. Hier sollte man die Zeit nach einer Katastrophe abwarten und sind autark versorgen.

Bei Lesen dieses Artikels fiel mir auf, dass ich Spuren eines solchen Zusammenbruches bereits gesehen hatte.

Malyj pizdec

Im Herbst 1999 hatten wir als Firma einen Auftrag der Weltbank zur Untersuchung einer Trinkwasserleitung am Aralsee (Kasachstan) erhalten. Zur Ausführung dieses Auftrages fuhren wir von Almaty aus ca. 1600 km in die Stadt Aralsk. Mit dem Verlassen der damaligen Hauptstadt Almaty betraten wir eine andere Welt. Wir kamen durch Städte, in denen die Infrastruktur weitgehend zusammengebrochen war. Die Bewohner von Mehrfamilienhäusern hatten sich Kanonenöfen in ihre Wohnungen gestellt und für den Rauchabzug einfach die Hauswand durchbrochen, um die Abzugsrohre ins Freie zu führen. Trinkwasser gab es mehrmals wöchentlich aus Tankwagen, Strom nur zu ausgewählten Zeiten früh und abends. Jeder der konnte, hatte das Gebiet Richtung Norden (Russland) verlassen.

Die Stadt Aralsk erreichten wir an einem frühen Abend. Es ist DIE Stadt am Aralsee und auf allen globalen Landkarten zu finden. Die Stadt war vollkommen dunkel. Im Hotel der Stadtverwaltung empfing man uns bei Kerzenschein und nahm uns nach alter sowjetischer Sitte erstmal die Pässe ab. Das Hotel war nicht nur unbeheizt, die Beheizung war schlicht nicht möglich. Irgendjemand hatte im Erdgeschoss die Rohre rausgeschnitten und sie irgendwo verhökert. (Wir hatten diesen Fall zwar nicht erwartet, aber für alle Fälle Schlafsäcke im Gepäck, die wir dann auch nutzten.) Ein Frühstück gab es in diesem Hotel auch nicht (Diesen Fall hatten wir vorhergesehen und machten uns unseren Kaffee auf einem Benzinkocher im Hotelzimmer.) Zum Abendbrot gab es stabil, d.h. ohne vorherige Bestellung: Wodka, Coca-Cola, Fladenbrot und Dörrfisch. Damit kann man auskommen. Wenn man etwas anders haben wollte, musste man dies am Vortag bestellen, damit es von der Hotelküche auf dem Markt beschafft werden konnte. Die örtliche Bar haben wir nur einmal betreten. Ohne meinen Almatiner Mitstreiter hätte ich unsere „neuen zufälligen Freunde“ nie wieder losbekommen. Und auch mein Almatiner Mitstreiter wusste nicht, dass ich unsere gesamte Projektkasse in Höhe von 8000 DM in Form von 1600 Stück Geldscheinen (je 200 Tenge im Gegenwert von 5 Euro) immer aber auch wirklich immer am Mann hatte. Es waren zwei Stapel von geschätzt je 6-8 cm Höhe, die sich wunderbar in den Außentaschen meiner Wattejacke verstauen ließen.

WüsteRohrleitungRohrleitungUfer des AralseesAralseeBesuchAnlieferungAralskBoden des Aralsees

Dennoch war es eine wunderbare Zeit. Die Abendessen im Hotel gestalteten sich nach einer Anlaufkurve zu richtigen Festessen mit interessanten anderen Hotelbewohnern. Darunter holländische Fischer, welche die örtlichen Fischer im Rahmen eines TACIS – Programmes unterstützten, und ihre Dolmetscherin – eine Kasachin, die in Ivanovo (Russland) russische Literatur studiert hatte und sich jetzt als Dolmetscherin durchs Leben schlug. Ich habe sie später in einer Fernsehreportage der ARD wiedergesehen. Darunter auch Einheimische, die sich als Betreiber von Minirestaurant für Fernfahrer durchs Leben schlugen. Darunter auch ein ehemaliger Fischer und jetziger Viehzüchter am Aralsee, der uns in sein bescheidenes Haus einluden und uns ein Essen bereitete aus dem, was da war, und uns vom Rückgang des Aralsees erzählten. Plötzlich sei es gewesen und so schnell, dass man die Boote nicht nachziehen konnte.

Ich bin nie wieder dort gewesen. Heute wird es besser sein. Es geht immer weiter.

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