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Erinnerungen an Petersburg

Ist ein Buch von Joseph Brodsky und eine Leseempfehlung für die Stunden am Meer, wenn man sich vom Meer für’s Erste sattgesehen hat und sich beschäftigen möchte. Dieses Buch kann man vom Volumen her in einem Zug durchlesen, vom Inhalt her eher nicht. Die Informationsdichte ist ungeheuer! Erinnerungen an Petersburg eröffnet Einblicke in die Sowjetunion vor unserer Zeit.


Obwohl dieses Buches von Brodsky in Englischer Sprache verfasst und nachfolgend von Sylvia List und Marianne Frisch ins Deutsche übertragen wurde, hört man noch das klare russische Original heraus. Mehr noch, man meint zwei Sprache weiter noch direkt das Original zu lesen. Es ist fast wie in einem Science Fiction, bei dem Sprachbarrieren durch Hochtechnologie überwunden werden und keine Rolle spielen.

Annäherung an Petersburg

Als Student war ich Mitte der 80ziger Jahre im Spätsommer mit meinem Freund Evgeny in Leningrad. Wir besuchten alles, was Touristen so besuchen: Eremitage, Peterhof, Isaakskathedrale, Kunstkammer, Veliky Novgorod. Erinnern kann ich mich vor allem an das unbeständige Wetter mit überraschenden Fotoperspektiven.

Im Winter/ Frühjahr 2009 bauten wir eine Montageanlage für einen Zulieferer von GM in St. Petersburg auf. Es war eine langsame Annäherung an dieses Stadt, die mit einer Fährfahrt Rostock – Helsinki begann und dann über Land fortgesetzt wurde. Mein Auto war vollgepackt mit Werkzeug und Verbrauchsmaterialien für unsere Baustelle, was natürlich nicht zulässig war, jedoch im Jahr 2009 an der Finnisch/ Russischen Grenze kein unlösbares Problem darstellte. Ich erreichte die Stadt im Hellen. Ein Navi hatte ich nicht. Der Plan war, Richtung Zentrum zu fahren, dann Richtung Moskau und an einem Park nach der eigentlichen Adresse zu fragen (Unser Hotel befand sich in einem Wohnviertel unweit des Parks des Sieges). Im Norden fährt man durch unendliche Neubauviertel, wie man sie auch in anderen Teile der ehemaligen Sowjetunion findet. Näher zum Stadtzentrum ändert sich das Bild. Die Häuser werden älter, die Straßen schmaler. Man meint in einer europäischen Großstadt mit Bauten aus dem 19. Jahrhundert gelandet zu sein. Im unmittelbaren Stadtzentrum erscheinen dann historische Bauten und Paläste. Nach einer globalen Rechtskurve (an der Neva lang) und einer globalen Linkskurve (an der Isaakskathedrale vorbei) entfernt man sich dem Stadtzentrum wieder und die Stadt wandelt sich in umgekehrter Richtung mit dem Unterschied, dass sich vor den Neubauvierteln ein Gürtel von Stalinbauten erstreckt. Das war mein Ziel. Hier musste ich nachfragen und ich fragte … einen Milizionär. Und er war … freundlich und zuvorkommend! Das ist ungewöhnlich für Russland und typisch für dieses Stadt. Beschrieben wird sie als Nördliche Hauptstadt oder als Kulturhauptstadt Russlands. Für mich ist sie die Stadt mit den höflichsten Menschen, die ich in Russland getroffen habe. Brodsky beschreibt sie als schönste Stadt der Welt.

Erinnerungen an Petersburg

Das Buch eröffnet auch dem scheinbar eingeweihten Leser neue unvermutete Einblicke in das Leben der Sowjetunion nach dem Krieg und bis in die 70ziger Jahre hinein. Interessant sind dabei Fakten zum gesellschaftlichen Leben, die ich so nicht kannte. Der Vater von Brodsky wurde beispielsweise nach dem Krieg aufgrund seiner jüdischen Nationalität aus der Armee entlassen. Auch von Kommunalwohnungen der im Buch beschriebenen Größenordnung hatte ich noch nie gehört. Am interessantesten sind zweifellos die gesellschaftskritischen Passagen im Buch, die ich so noch nie gelesen habe. Sie sind meilenweit weg von verklärten rosafarben Blick des westlichen Bildungsbürgertums auf Russland. Sie sind verschieden zum Blick des russischen Normalbürgers. Sie entsprechen weitgehend dem Blick der russischen Bildungselite. In Brodsky verbindet sich die Kultur der russischen Bildungselite mit dem praktischen und mitunter hart wirkenden Ansatz des russischen Normalbürgers. Anbei drei Zitate aus dem Buch Erinnerungen an Petersburg von Joseph Brodsky als Einstimmung auf dieses lesenswerte Buch.

Brodsky
über
seine
Kindheit

Es war einmal ein kleiner Junge. Er lebte im ungerechtesten Land der Welt. Das von Wesen regiert wurde, die nach aller menschlichen Einschätzung als entartet hätten angesehen werden müssen. Was nie geschah. Und da war eine Stadt. Die schönste Stadt auf dem Antlitz der Erde. Mit einem unermeßlichen grauen Fluß, der über ihren fernen Ausläufern hing wie der unermeßliche graue Himmel über diesem Fluß. An diesem Fluß standen prachtvolle Paläste mit so wunderschön gestalteten Fassaden, daß, wenn der kleine Junge am rechten Ufer stand, das linke Ufer aussah wie der Abdruck einer riesigen Molluske namens Zivilisation. Die ausgestorben war. Frühmorgens, wenn der Himmel noch voller Sterne war, stand der kleine Junge auf, und nachdem er, begleitet von einer Rundfunkmeldung über einen neuen Rekord im Stahlschmelzen, gefolgt vom Soldatenchor mit einer Hymne an den Ersten Sekretär, dessen Bild an die Wand über dem noch warmen Bett des kleinen Jungen geheftet war, eine Tasse Tee und ein Ei zu sich genommen hatte, rannte er die schneebedeckte granitene Uferbefestigung entlang zur Schule. Der breite Fluß lag weiß und gefroren da wie die in Schweigen verfallene Zunge eines Erdteils, und die große Brücke wölbte sich gegen den dunkelblauen Himmel wie ein eiserner Gaumen. Wenn der kleine Junge zwei Minuten Zeit hatte, rutschte er aufs Eis hinunter und lief zwanzig, dreißig Schritte zur Mitte vor. Dabei dachte er die ganze Zeit darüber nach, was die Fische wohl unter so schwerem Eis taten. Dann hielt er an, drehte sich um 180 Grad und rannte ohne Pause bis zur Schule und die Stufen zum Eingang hinauf. Er platzte in die Halle, schmiß unweigerlich Hut und Mantel auf einen Haken und stürmte die Treppe hinauf und in sein Klassenzimmer hinein. Es ist ein großer Raum mit drei Reihen von Pulten, einem Porträt des Ersten Sekretärs an der Wand hinter dem Stuhl der Lehrerin, einer Landkarte mit den beiden Hemisphären, von denen nur eine legal ist. Der kleine Junge setzt sich auf seinen Platz, legt Federhalter und Kladde auf das Pult, hebt das Gesicht und macht sich bereit, Gelaber zu hören.

Joseph Brodsky, Übersetzerin – Sylvia List, Erinnerungen an Petersburg,
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2003, München, S.59/60,
mit freundlicher Genehmigung von Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

Was immer es war – ob Lüge, Wahrheit oder höchstwahrscheinlich eine Mischung von beidem -, das mich zu einer solchen Entscheidung trieb, ich bin diesem Anlaß unendlich dankbar für meine offenbar erste freie Handlung. Es war eine Instinkthandlung, ein Ansteigen. Vernunft hatte nur sehr wenig damit zu tun.

Hinterher habe ich jenen Schritt oft bedauert, vor allem als ich meine früheren Klassenkameraden innerhalb des Systems so gut vorankommen sah. Und doch kannte ich etwas, das sie nicht kannten. Tatsächlich kam ich auch voran, sogar ein bißchen weiter, aber in der entgegengesetzten Richtung. Besonders froh bin ich über eines, nämlich daß es mir gelungen ist, die »Arbeiterklasse« gerade noch in ihrem wahrhaft proletarischen Stadium zu erleben, bevor sie in den späten fünfziger Jahren eine Wandlung zur Mittelklasse durchzumachen begann. Es war echtes »Proletariat«, mit dem ich in der Fabrik zu tun hatte, wo ich mit fünfzehn als Maschinist an der Fräsmaschine anfing. Marx würde sie sofort wiedererkennen. Sie – oder vielmehr »wir« – lebten alle in Kommunalwohnungen, zu viert oder mehr in einem Zimmer, oft drei Generationen zusammen, schliefen umschichtig, soffen wie die Löcher, gifteten einander an oder die Nachbarn in der Kommunalküche oder in der Morgenschlange vor dem Kommunalklo, verprügelten ihre Frauen mit todgeweihter Entschlossenheit, weinten in aller Offenheit bei Stalins Tod und im Kino, fluchten dermaßen häufig, daß ein normales Wort wie »Flugzeug« einem Vorübergehenden als etwas ausgesucht Obszönes Vorkommen mußte, und wurden ein indifferenter grauer Ozean von Köpfen oder ein Wald erhobener Arme bei öffentlichen Versammlungen wegen dieses oder jenes Ägypters.

Joseph Brodsky, Übersetzerin – Sylvia List, Erinnerungen an Petersburg,
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2003, München, S.24/25,
mit freundlicher Genehmigung von Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

Brodsky
über
seine
Jugend

Brodsky
über
seine
Mit­­menschen

Niemand kannte Literatur und Geschichte besser als diese Menschen, niemand vermochte besser Russisch zu schreiben als sie, niemand empfand gründlichere Verachtung für unsere Zeit. Für diese Leute bedeutete Zivilisation mehr als tägliches Brot und nächtliche Umarmung. Dies schien, war aber nicht eine weitere verlorene Generation. Dies war die einzige Generation von Russen, die zu sich selbst gefunden hatte, für die Giotto und Mandelstam maßgeblicher waren als ihr persönliches Schicksal. Ärmlich gekleidet, aber irgendwie trotzdem elegant, herumgeschoben von den tauben Händen ihrer unmittelbaren Herren, ständig hakenschlagend auf der Flucht vor den allgegenwärtigen Staatshunden und den noch allgegenwärtigeren Füchsen, gebrochen, alternd, bewahrten sie dennoch ihre Liebe zu dem inexistenten (nur in ihren kahler werdenden Köpfen existierenden) Ding namens »Zivilisation«. Hoffnungslos vom Rest der Welt abgeschnitten, dachten sie, daß wenigstens jene Welt wie sie wäre; nun wissen sie, daß sie wie die anderen ist, nur besser angezogen. Während ich dies schreibe, schließe ich meine Augen und sehe sie beinahe vor mir, wie sie in ihren Bruchbuden von Küchen stehen, das Glas in der Hand, und ihre Gesichter zu ironischen Grimassen verziehen. »Da, da…« Sie grinsen. »Liberté, Egalité, Fraternité … Warum fügt niemand hinzu: Kultur?«

Joseph Brodsky, Übersetzerin – Sylvia List, Erinnerungen an Petersburg,
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2003, München, S.55/56,
mit freundlicher Genehmigung von Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

Quelle:

Joseph Brodsky, Erinnerungen an Petersburg
Aus dem Englischen übersetzt von Sylvia List und Marianne Frisch / Mit Photographien von Barbara Klemm
© 2003, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

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