Bundesarchiv_Bild_183-1990-0701-011,_Währungsumstellung,_Deutsche_Mark,_100_DM

Fünf Verdopplungen in sechs Wochen

Ljoscha und Nadja lernten wir im Herbst 1989 kennen. Wir sind Ljoscha und Nadia unendlich dankbar. Sie haben uns die Sowjetunion für unser erstes gemeinsames Jahr nach Chemnitz gebracht. Ein Stück russisches Studentenleben im deutschen Einerlei.


Wenn man als DDR Bürger zum Studium in die Sowjetunion kam, fehlten einem schon nach kurzer Zeit die kleinen Gassen und alten Häuser und Kirchen – kurz die Enge der angestammten Heimat.

Wenn man als Sowjetbürger zum ständigen Wohnsitz in die DDR übersiedelte, fehlten einem schon nach kurzer Zeit die Breite der Straßen, die Menschenmengen auf den Straßen und die ständige Kommunikation.

Wenn man als DDR Bürger vom Studium in der Sowjetunion nach Hause kam, fehlten einem schon nach kurzer Zeit die Breite der Straßen, die Menschenmengen auf den Straßen und die ständige Kommunikation.


Ljoscha und Nadja waren delegiert zur Abnahme von mehreren Maschinen und von Herbst 1989 bis kurz nach der Währungsunion in Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz. Tanja hatte sie auf einem Volkshochschulkurs Deutsch für Ausländer kennengelernt. Ljoscha und Nadja wohnten im gleichen Häuserblock vier Eingänge weiter. Wir haben uns fast jeden Tag gesehen, so wie man sich in der Sowjetunion sieht. Zwanglos und ohne Vorankündigung. Und wir haben Preferans gespielt und Wein getrunken und manchmal auch Wodka, aber selten. Im Vorfeld der Währungsunion hatte Ljoscha eine Idee.

Der Umtauschkurs wurde speziell gestaffelt und variierte je nach Alter und Gegebenheit. So durften Bürger ab 60 Jahren bis zu 6.000, Erwachsene bis zu 4.000 und Kinder bis 14 Jahren bis zu 2.000 DDR-Mark zum Kurs von 1:1 umtauschen. Darüberliegende Sparguthaben wurden zum Kurs 2:1 gewechselt, Schulden wurden ebenfalls halbiert. Löhne, Gehälter, Stipendien, Renten, Mieten und Pachten sowie weitere wiederkehrende Zahlungen wurden zum Kurs von 1:1 umgestellt. Die Guthaben von Personen und Firmen, die nicht ihren Sitz in der DDR hatten, wurden zum Kurs von 3:1 umgetauscht. 

Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Wikipedia

Tausche Monatseinkommen gegen Arbeitslebensvermögen

Den Umtausch von DDR-Mark in DM zu den o.g. Bedingungen konnten wir nicht wirklich verstehen. Und noch weniger konnten wir verstehen, dass Nicht-DDR-Bürger, die in der DDR arbeiteten, Geld zu den gleichen Bedingungen umgetauscht bekamen. Die DM war für uns im wahrsten Sinne des Wortes wertvoll. Sie war für uns der Duft der großen weiten Welt, die Erfüllung unserer Träume, der Joker, den man einsetzen konnte, wenn nichts mehr ging und den man dennoch nie ausgab, oder zumindest versuchte nie auszugeben. Nicht, dass wir unseren sowjetischen Arbeitskollegen und Freunden diesen Umtausch nicht gegönnt hätten. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass so ein Umtausch funktionieren würde. Wir waren eben noch staatshörig und wir waren (eben noch) vollkommen blöde.

Aber wir halfen unseren Freunden …

  • 300 Rubel
    Ljoscha gab mir 300 Rubel, was dem Monatsgehalt seines Vaters entsprach. Sein Vater war Ingenieur auf irgendeiner Kohlengrube und verdiente weniger als die Hauer im Abbau oder Vortrieb, die es auf 500 bis 900 Rubel bringen konnten. Und dennoch lagen die 300 Rubel deutlich über dem Durchschnittsverdienst eines sowjetischen Menschen. Diesen kann man wohl mit 170 Rubeln ansetzen. Nach dem Studium konnte man als frischgebackener Absolvent mit 130 Rubeln rechnen. Unser Stipendium als DDR – Studenten lag bei 105 Rubel – wahrhaft fürstlich, da wir von 60 Rubeln durchaus leben und den Rest in Reisen und Abenteuer umsetzen konnten.
  • 900 DDR-Mark
    Diese 300 Rubel trug ich zur Staatsbank und tauschte sie um in 900 DDR-Mark. Man wird sich fragen, warum mein sowjetischer Bekannter seine Rubel nicht selbst zur Bank getragen hat. Die Währungen waren im Sozialismus nicht wirklich frei konvertierbar. Es war unklar, ob er seine Rubel überhaupt tauschen durfte. Der Umtausch war jedenfalls unerwartet einfach. Rein kaufkraftmäßig bedeutete dieser Umtausch einen Verlust, wenn man Waren des Grundbedarfs zum Ansatz brachte. Der Umtauschkurs lag bei 1 Rubel = 3 DDR-Mark. Im realen Leben war die Kaufkraft des Rubel deutlich höher, als es dieser Kurs erwarten lassen würde.
  • 900 DM
    Ljoscha zahlte die 900 DDR-Mark auf sein Konto, welches zum Kurs von 1:1 auf DM umgestellt wurde.
  • 9000 Rubel
    In der Sowjetunion der 80ziger Jahre gab es den Begriff des Defizits. Ein Defizit ist irgendeine Unterschreitung eines Sollwertes. Im Sowjetischen Alltag war es die Bezeichnung für den Mangel an gewünschten und nicht verfügbaren Konsumgütern. Dazu zählten Jeans und Videorekorder und Videokameras und Musikanlagen. Es war nicht so, dass es diese Produkte nicht gab. Es gab sie zu einem unerhörten und dem Defizit angemessen Preis. Marktwirtschaft in Zeiten der Planwirtschaft. Irgendjemand hatte genügend Barmittel und kaufte Jeans für 140 Rubel, tragbare Musikanlagen für 2000 Rubel usw. Der daraus abgeleitete Schwarzmarktkurs lag im Herbst des Jahres 1990 bei 1 DM = 10 Rubel. Aus den 900 DM ergaben sich 9000 Rubel. Dies war eine ungeheure Summe Geld. Es waren viereinhalb Jahresverdienste bei einem normalen sowjetischen Gehalt und zwei bis drei Jahresverdienste bei einem guten sowjetischen Gehalt und es war sage und schreibe das Dreißzigfache des Einsatzes und fast fünf Verdoppelungen in nur sechs Wochen.

Ungeahnte Möglichkeiten

In der Sowjetunion konnte man keine Wohnung kaufen. Man konnte sie jedoch tauschen, was manchmal durch komplizierte Ringtauschaktionen mit mehreren Beteiligten realisiert wurde. Für fünftausend Rubel konnte man sich aus dem Nichts eine Einraumwohnung in einem Stalingebäude im Zentrum der Stadt ertauschen. Mit neuntausend Rubeln kam noch mindestens ein Zimmer dazu. Wir rieten unseren Freunden, eine historische Chance zu nutzen und die besagten neuntausend Rubel in eine Wohnung im Zentrum ihrer Stadt zu investieren (von einem Monatsgehalt!).

Das taten sie nicht. Sie kauften Lederjacken und Musikanlage und Jeans und all diesen Kram. Und nach einem Jahr verkauften sie Lederjacken und Musikanlage und Jeans und all diesen Kram und alles andere, was sie aus Nachwährungsuniondeutschland mit nach Hause hinübergerettet hatten und kauften eine Wohnung in einem Stalingebäude im Zentrum der Stadt. Die Preise waren gestiegen und dennoch günstig wie nie wieder. Die Wohnung wurde im Rahmen der Privatisierung Anfang der 90ziger Jahre vom Staat an die Mieter als Teil des Volkseigentums in ihr persönliches Eigentum überschrieben. Die Wohnung von Ljoscha und Nadia im Zentrum ihrer Stadt hat heute einen in Zahlen nicht ausdrückbaren Mehrwert in Bezug auf den ursprünglichen Einsatz. Und sie hat einen Nutzen – man kann komfortabel in ihr wohnen oder sie vermieten oder verkaufen.

Postscriptum

Einer unserer sowjetischen Kollegen setzte seine umgetauschten Deutschen Mark komplett in Kaviar um. Er kaufte sie im Fernen Osten und sie fuhren als Eisenbahnwagon den gesamten Winter 90/91 schön falsch deklariert in aller Ruhe ihre 10000 km aus dem kalten Fernen Osten in die warme südliche Ukraine und füllten die Geschäfte seiner Stadt im Frühjahr 1991 mit ungeahntem Glanz. Und unser sowjetischer Kollege konnte zu den fünf Verdoppelungen der Währungsunion wohl noch einige hinzufügen. Da es nur zwanzig Verdoppelungen von einer Geldeinheit zu einer Million sind und nur zehn Verdoppelungen von 1000 Geldeinheiten zu einer Million, wird er wohl im Sommer 1991 in den Bereich der Rubelmillion gekommen sein. Und der Durchschnittslohn lag immer noch bei 170 Rubel im Monat und dunkle Wolken standen am Horizont.


Eine Transformation bietet ungeahnte Möglichkeiten.

Links:
https://en.wikipedia.org/wiki/Preferans
https://de.wikipedia.org/wiki/Währungs-,_Wirtschafts-_und_Sozialunion

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