Leninplatz, Donezk

Goodbye Lenin

Ich reise gerne, schon immer. Irgendwann tauchte an unserem Institut in Donezk ein Usbeke auf. Ich überredete ihn, mir eine Einladung zu seiner fiktiven Oma nach Samarkand zu schreiben (Als DDR- Studenten durften wir uns nur in einem Umkreis von 100 km um den Studienort frei bewegen). Auf die Frage unseres Ausländerdekans, wo denn die Oma wohne, antwortete mein neuer Bekannter ohne mit der Wimper zu zucken Leninstraße Nummer Eins.

Die Antwort war beeindruckend und unsinnig zugleich. Sicher gab es eine Leninstraße in Samarkand. Es musste eine geben, weil es in jeder Stadt der Sowjetunion eine Leninstraße gab, im Jahre 1986. Und natürlich musste es irgendeine zentrale Straße sein. Leider war ebenso klar, dass die Oma meines neuen Bekannten niemals Leninstraße Nummer Eins wohnen konnte. Unter dieser Adresse könnte man die Stadtverwaltung oder die örtliche Parteizentrale oder eben ein großes Warenhaus vermuten. Unser Ausländerdekan nickte wohlwollend und lies die Sache im Sande verlaufen. Er hatte verstanden, dass es ein Fake war und ich hatte verstanden, dass er verstanden hatte, dass es ein Fake war. Gedankenspiele.

Lenin war allgegenwärtig (im Osten)

Zu den Besonderheiten der Russischen Sprache zählt, Dinge extrem kurz ausdrücken zu können. Im Sozialismus standen auf den Hauptgebäuden der Stadt Slogans wie: Миру мир (Friede der Welt), Слава КПСС (Ruhm der KPdSU), Народ и партия едины (Das Volk und die Partei sind vereint). Mit Lenin war es da schon etwas schwieriger. Ленин жил, Ленин жив, Ленин будет жить war weiterverbreitet und sollte soviel heißen wie: Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird (immer) leben. Für einen Deutschen ist das eindeutig zu viel Hokusposkus. Unsere sowjetischen Mitstudenten fanden den Spruch vollkommen in Ordnung. Wenn wundert das. Sie hatten ihn ihr ganzes Leben lang gehört, ihre Eltern hatten ihn das ganze Leben lang gehört und ihre Großeltern hatten ihn das ganze Leben lang gehört. Er gehörte zum Leben wie Sommer und Winter, wie die Luft zum Atmen.

Nur selten kamen Dissonanzen in diese Welt. Etwa, als mir unsere Russischlehrerin vor der Ernennung Gorbatschows zum Vorsitzendes des ZK der KPdSU erzählte, dass viele Familiennamen aus den Geschichtsbüchern gestrichen worden wären. (Ihre Vorfahren waren Adlige am Hof des letzten russischen Zaren und die Liebe zu ihrer Heimat war offensichtlich größer als die Angst vor der Sowjetmacht. Ihre Mutter sprach fließend Russisch, Französisch und Deutsch.) Oder, als mir ein Mitstudent erzählte, dass es nach Erzählungen seines Opas eine Zeit gegeben habe, in der Leute von heute auf morgen aus dem Straßenbild verschwanden und nie wieder auftauchten. Oder, als mir ein Jude im Alpinistenlager erzählte, seine Oma hätte während der Revolution zwei Progrome überlebt, einen von Weißgardisten und einen von Rotgardisten.

Dennoch gehörte Lenin dazu. Durch seine allgegenwärtige Präsenz hatte er sich verwoben mit den Erinnerungen an Kindheit, Schule, Feiertage und war Teil des sowjetischen Selbstverständnisses der Welt, Teil der Religion des Sowjetischen Menschen geworden.

Lenin war gut (im Westen)

Im Westen war Lenin neben Che Guevara und Mao Zedong Symbol des Guten und Teil vieler Bürgerrechtsbewegungen. Das kann nur als durchschlagender Propagandaerfolg des sozialistischen Lagers gewertet werden. Offensichtlich hat es die sozialistisch/ kommunistische Bewegung in erstaunenswerter Weise geschafft, die Idee in die Köpfe der Menschen zu tragen, dass es durchaus legitim sei, wenige Menschen zu opfern, um alle Menschen zu retten. Ein fanatischer und religiöser Ansatz, der um so griffiger zu sein schein, wenn man sich selbst zu den erretteten Menschen zählt.

Goodbye Lenin (letztendlich)

Goodbye Lenin ist eigentlich ein irreführender und vollkommen verharmlosender Slogan. Man sieht Lenin als guten alten Opa vor sich, der eben weiterziehen muss. Schade eigentlich, aber irgendwann zieht halt jeder weiter. Dabei wird vergessen, dass Lenin als Begründer des Konzentrationslagers im Europa angesehen werden kann.

Im Rahmen seiner (d.h. Lenins, d.R.) Weisungsbefugnis als Staatschef regte er (d.h. Lenin, d.R.) allerdings an, Geiseln unter Zivilisten und Angehörigen von Offiziersfamilien nehmen zu lassen, da er Hochverrat unter den im alten Regime ausgebildeten Offizieren fürchtete.[67] Lenin förderte und verlangte als Staatschef den Roten Terror im Bürgerkrieg. So ordnete er am 9. August 1918 (d.h. vor dem Attentat auf ihn selbst am am 30. August 1918 nachdem der Rote Terror als Reaktion auf das Attentat offiziell proklamiert wurde, d.R.) in einem Schreiben an die Behörden von Nischni Nowgorod an: „Organisiert umgehend Massenterror, erschießt und deportiert die Hundertschaften von Prostituierten, die die Soldaten in Trunkenbolde verwandeln, genauso wie frühere Offiziere, etc.“[68] Am selben Tag ordnete er gegenüber den Behörden von Pensa die Einrichtung eines Konzentrationslagers an.[69]

Wladimir Iljitsch Lenin, Wikipedia über den Beginn von Terror und Gegenterror

Heute wird gern argumentiert, dass Stalin der Verbrecher und Kern des Bösen in einer großen Riege guter Revolutionäre gewesen sei, der die ganze gute Sache verdorben habe. Dabei wird vergessen, dass praktische alle Revolutionshelden an der Vernichtung der Bourgeoise beteiligt waren, nicht nur als Klasse (im „wissenschaftlichen“ Sinne) sondern physisch! Und es wird vergessen, dass die Sowjetunion ein Lagersystem unvorstellbareren Ausmaßes aufgebaut hatte.

ZEIT: Sie zitieren den Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Hoess. Demnach haben die Planer von Auschwitz vor Baubeginn Pläne russischer Konzentrationslager studiert und sich von ehemaligen Insassen russischer KZs die Strategie der Bevölkerungsvernichtung durch Zwangsarbeit erklären lassen. Sehen Sie in den russischen Lagern das Modell für Auschwitz?


COURTOIS: Die Faktenlage ist eindeutig. Lenin hat 1917 die Macht ergriffen, Hitler 1933. Es ist heute einwandfrei dokumentiert, daß Lenin und Trotzkij das System der Konzentrationslager erfunden haben. Ab 1920/21 wurden politische Gegner in diese Lager geschickt mit dem Ziel, sie dort durch Zwangsarbeit zu vernichten. Natürlich hatte das System der Konzentrationslager in Deutschland und Rußland jeweils seine Besonderheiten. In Deutschland traf die Idee des Konzentrationslagers mit der hochentwickelten Organisations- und Industriekultur der Deutschen zusammen. Das Ergebnis davon war Auschwitz. (hervorgehoben, d.R.)

Der rote Holocaust, Interview mit dem französischen Historiker Stéphane Courtois, dem Herausgeber des „Schwarzbuches“ von  Wolfgang Proissl, 21. November 1997, Quelle: DIE ZEIT, 48/1997 (Bemerkung: Der Artikel kann nach kostenfreierer Registrierung bei ZEIT ONLINE kostenfrei gelesen werden.)

Lenin war trojanisches Pferd und Antichrist und man sollte ihm keine Träne nachweinen und traf doch auf fruchtbaren Boden. Dieser fruchtbare Boden ist es, der Zweifel hervorruft. Wie kann es sein, dass sich eine solche Bewegung aus einer Zeit heraus entwickeln konnte, die als Silbernes Jahrhundert Russlands bezeichnet wird? Eine Hochkultur in Literatur, Kunst und Wirtschaft.

Top 20 Country GDP (PPP) History & Projection (1800-2040)

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Gulag

https://www.nzz.ch/international/russlands-norden-die-hoelleninsel-solowki-ld.1472742

https://www.zeit.de/1997/48/Der_rote_Holocaust/komplettansicht

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