Stille von Thomas Wolf

Mein erfundenes Land

Das bekannteste Buch von Isabel Allende ist sicher Das Geisterhaus. Als Familienepos erzählt es die Geschichte einer Familie und irgendwie sicher die Geschichte ihrer Familie. Die Geschichte einer Familie der Oberschicht in Chile. Isabel Allende war verwandt mit Salvador Allende und gehörte zweifellos zur Oberschicht Chiles. Nach seinem Sturz musst sie emigrieren. Über die Zwischenstation Venezuela fand sie schließlich – eine Ironie des Schicksals – in den USA eine neue Heimat.

Man fragt sich oft, warum Isabel Allende nach der Abdankung Pinochets nicht nach Chile zurückkehrte. Sie hat ihre Heimat Chile oft besucht und unendlich viele Bücher über ihre Heimat Chile geschrieben, aber wirklich zurückgekehrt ist sie nie. Zu empfehlen in diesem Zusammenhang ist ihr Buch Mein erfundenes Land. Es ist eine Sammlung von autobiographischen Kurzgeschichten. Es erzählt vom Land und der Kultur ihrer Herkunft und vom Land und der Kultur ihrer Gegenwart. Aus diesen verschiedenen Eindrücken formt sich ihr eigenes Land.

Ein Land, das man auf keiner Karte findet.
Ein Land, das man in keine feste Zeit einordnen kann.
Ein Land, das keiner festen Sprache zugeordnet werden kann.
Ihr erfundenes Land, ein Land zwischen den Welten und zwischen den Zeiten.

Mein erfundenes Land

In diesem Zusammenhang habe ich mich oft gefragt, was mein erfundenes Land ist. Ich habe verschiedene Ländern zu verschiedenen Zeiten erlebt. Dabei war das kleine Land DDR, in dem ich geboren wurde. Dabei war das große Land Sowjetunion, damals die große weite Welt und heute eine Teil der großen weiten Welt. Dabei ist das kleine Land Bundesrepublik Deutschland, in dem ich mich nach Rede und Gegenrede wiederfand.

In meinem erfundenen Land gibt es keine großen und modernen Flugzeuge. Die Flugzeuge sind klein, die Tür zum Cockpit meist offen. In meinen Gedanken fliege ich vor irgendeinem Feiertag von einer Dienstreise kommend nach Hause. Das Flugzeug hat irgendeinen Defekt und wir müssen irgendwo zwischenlanden. Während die Piloten am Flugzeug rumschrauben, als wäre es ein Auto, sitze ich mit den Passagieren gleich daneben und trinke Wodka. Es ist angenehm warm. Die Bäume haben noch nicht ausgeschlagen, aber es liegt so ein Duft in der Luft. Es muss kurz vor dem 1.Mai sein. Irgendwann ist das Flugzeug wieder startklar und wir fliegen weiter. Man sieht keine Wälder, nur Felder und ab und zu mal eine paar Baumgruppen und Halden. Die Halden stören das ansonsten einheitliche Bild wie Maulwurfshügel eine Wiese. Der Flughafen ist weit außerhalb der Stadt. Ich fahre mit dem Taxi nach Hause. Überall rote Fahnen und Aufschriften in einer anderen Sprache. Nach einer halben Stunde bin ich endlich zu Hause. Es gibt eine Frau. Auch sie spricht eine andere Sprache. Wir wohnen an einer der Hauptstraßen dieser Stadt. Dort, wo sich zwei Gebäude mit riesigen Säulen gegenüberstehen, haben wir vor kurzem eine Wohnung in einem niedrigen Mehrfamilienhaus gleich hinter einem der riesigen Säulengebäude bekommen. Unser Haus hat dicke gelbe Mauern. Es ist neu, vielleicht zehn Jahre alt. Die Wohnung ist klein, aber die Küche fast so große wie das Wohnzimmer. Wir machen Kartoffelbrei und braten irgendwelches Fleisch. Abends kommen Freunde und wir schmieden Pläne für den Sommer. Die Nachbarn kommen dazu und setzen sich ungefragt an den Tisch. Das ist hier so üblich. Mein. Dein. Unser. Dein. Mein. Unser. Die Grenzen verlaufen woanders. Irgendjemand spielt Gitarre. Irgendwann verschwindet jemand und holt eine weitere Flasche Wodka.

Mein erfundenes Land ist unendlich groß und praktisch grenzenlos.
Mein erfundenes Land hat mechanische Uhren.
Mein erfundenes Land spricht eine Sprache ohne Artikel und Hilfsverben.
Mein erfundenes Land ist nicht gerecht.
Mein erfundenes Land hat versucht, sich seine Wurzeln auszureißen.
Mein erfundenes Land ist nicht an eine Wirtschaftsordnung gebunden.
Mein erfundenes Land wird Milliardäre hervorbringen.
Mein erfundenes Land wird sich in alle Welt verstreuen und Google mitbegründen.

Die Menschen meines erfundenen Land wissen, was gut ist und was schlecht ist.
Die Menschen meines erfundenen Landes haben kein Angst.
Die Menschen meines erfundenen Landes bitten nie um etwas.
Die Menschen meines erfundenen Landes glauben an die Einsicht in die Notwendigkeit.

Ich erkenne die Menschen meines erfundenen Landes, auch wenn sie eine andere Sprache sprechen. Es genügt ein Wort und manchmal nur ein Blick. Mein erfundenes Land liegt vor meiner Zeit.


Bildnachweis: Foto Stille von Thomas Wolf (weiter Angaben dazu)

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