Berlin, Demonstration am 4. November

Sonntag, 4. November 1989

Sonntage sind heilig. Hier erst findet der Mensch zu sich selbst. Den 04. November 1989 habe ich vor dem Fernseher verbracht. Die Demonstration vom 04. November war angekündigt worden. Die Demonstration wurde live übertragen und ich habe sie mir von Anfang bis Ende angeschaut, wie sehr viele Menschen. Es war in jedem Fall das Gesprächsthema am Montag auf Arbeit.

https://youtu.be/_0bAmfkI6-g
Komplettaufzeichnung der Demonstration am 04. November 1989

Anbei einige Auftritte, an die ich mich im Nachhinein erinnern konnte. Die Auswahl ist natürlich in keiner Weise repräsentativ und entspricht auch nicht zwangsläufig der Reihenfolge der Auftritte.


Los ging es in jedem Fall mit Wenzel & Mensching. Wenzel ist eigentlich der Sänger für mich. Kam aus der DDR – Singebewegung im guten Sinne des Wortes, also von abseits des allgemeinen global ausgerichteten Mainstreams. Ganz tolle Lieder, durch alle Zeiten. Den meisten Menschen auf der Demonstration wird das Duo Wenzel & Mensching nicht sehr vertraut gewesen sein. In der DDR waren sie für Auftritte in Klubs und Kabaretts bekannt. Ich habe sie zum ersten Mal 1982 in Halle mit einem Programm über Goethe gesehen.

https://youtu.be/tsPKRSvSWVg
Auftritt von Stephan Heym

Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut!“ – lautet der wohl berühmtestes Satz aus der Rede von Stefan Heym bei seinem Auftritt am 04. November 1989 und der stärkste Satz der gesamten Demonstration. Ich weiß nicht mal, ob dieser Spruch von ihm selbst oder aus irgendeinem literarischen Werk stammt. Ist eigentlich auch nicht wichtig. +++ Stefan Heym stammt aus Chemnitz. Und immer wenn ich Besucher durch unsere Stadt fahre, richtet ich es so ein, dass wir neben dem Marx-Monument, neben dem Firmensitz von Niles-Simmons und neben der ehemaligen Generaldirektion der SDAG Wismut auch am Geburtshaus von Stefan Heym vorbeikommen. +++ Alterspräsident des Deutschen Bundestages in einer Zeit, als die Linke noch nicht hoffähig geworden war. +++ Stefan Heym hat jüdische Wurzeln und musste Deutschland während der NS-Zeit verlassen. Ein unangepasster Geist, ein Vertreter des demokratischen Sozialismus.

https://youtu.be/pc27elXIXVU
Auftritt von Gregor Gysi

Gregor Gysi war am 04. November 1989 sicher kein Unbekannter mehr. Für normale, nicht eingeweihten Menschen war er wahrscheinlich der Newcomer innerhalb der SED, jung und spritzig und redegewandt. Er sollte zum prägenden Gesicht der SED und danach der SED PDS und danach der PDS und danach der Linken werden. +++ Irgendwann habe ich mal eine Rundfunksendung über Kulturpolitik in der DDR gehört und da gab es eine Einspielungen mit einer sehr vertrauten Stimme. Wie sich herausstellte war dies Klaus Gysi – Minister für Kultur der DDR und Vater von Gregor Gysi. Die Ähnlichkeiten war so umwerfend, dass man es kaum glauben konnte. Gregor Gysi stammt aus einer jüdischen Familie und gehört zweifellos zur Elite unseres Landes. +++ Als nach 2014 der Konflikt im Osten der Ukraine eskalierte, besuchten im Februar 2015 die beiden Bundestagsabgeordneten der Linken Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko die DNR, um eine Hilfssendung für Krankenhäuser zu überbringen. Sie reisten dazu über die nicht von der Ukraine kontrollierte Grenze zu Russland ein, aus Sicht der Ukraine illegal. Dort trafen sie sich mit dem damaligen pro-russische Separatisten-Anführer Alexander Sachartschenko. Unglaublich. Ich habe an Hrn. Hunko, Fr. Wagenknecht und an Gregor Gysi einen Brief geschrieben. Und Gregor Gysi hat geantwortet und das Ziel der Aktion in den Vordergrund gestellt. +++ Nach den tragischen Ereignissen Ende August 2018 in Chemnitz, besuchte Gregor Gysi Chemnitz. Beim Smalltalk auf dem roten Sofa zeigte sich der Anwalt in Gregor Gysi – klar im Denken, redegewandt und mit einer gewissen Gelassenheit. Zu Konflikten bei Scheidungen befragte, sagte er: „Denken Sie immer dran, dass ihre Frau auch mal Recht haben muss.“ Ein schöner Spruch. Ich habe ihn in meine Sammlung aufgenommen und geben ihn von Zeit zu Zeit von mir.

https://youtu.be/_0bAmfkI6-g?t=162
Auftritt von Gerhard Schöne

Gerhard Schöne – war sicher der Sänger der letzten Jahre der DDR. Seine Konzerte füllten in den absoluten Hochzeiten wohl sogar mal ein Stadion, was für einen Liedermacher die absolute Ausnahme darstellt. +++ Ich habe Gerhardt Schöne zum ersten Mal in einem Sommercamp junger Fotografen im Sommer 1981 in der Nähe von Berlin erlebt, noch vor Erscheinung seiner ersten LP. Ich hatte zum damaligen Zeitpunkt noch nie einen Liedermacher mit derart virtuoser Gitarrenbegleitung erlebt. Und das allerunglaublichste daran war – ich erkannte keinen einzigen Griff. Gerhardt Schöne spielt in einer offenen Stimmung. Vermutlich E-Moll, jedenfalls habe ich in dieser Stimmung versucht, seine Lieder nachzuspielen. +++ Als ich ihn wenig später im Fernsehen sah, schrieb ich an das Fernsehen der DDR einen Brief mit der Bitte um Weiterleitung an Gerhard Schöne. Ich habe ihn an unsere Oberschule in Gera eingeladen. Wir (im Sinne die FDJ) befanden uns damals in ständiger Konkurrenz mit der Kirche, wenn es um Kulturveranstaltungen ging. So beschloss ich, unsere (im Sinne die FDJ – ) Seite zu stärken. Er hat geantwortet und das Konzert fand im Winter 1982 in der Aula unsere Schule statt. Ich war inzwischen an der ABF und reiste speziell für diesen Auftritt an. Und ich war nicht der Einzigste mit weiterer Anreise. Das Konzert war zu einem Geheimtipp geworden und die Aula brechend voll. Und es wurde natürlich keine FDJ – Veranstaltung. Toll, ganz ohne Lautsprecheranlage und nur durch den Fahrplan der Reichsbahn irgendwann zeitlich begrenzt. +++ Im Winter habe ich ihn mit Ina aus unserer ABF – Klasse in seiner Wohnung in Berlin besucht. Dritter Hinterhof, Treppe bekannt vom Cover der 1.LP, eine total flippige Wohnung. Gaukler. Nach einer Viertelstunde ließen wir ihn in Ruhe. Ina mit den dicken Brillengläsern und den vorwurfsvoll funkelnden Augen hielt es nicht länger aus. +++ Ein sehr angenehmer Mensch.

https://youtu.be/_0bAmfkI6-g?t=1092
Auftritt von Jan Josef Liefers

Jan Josef Liefers – habe ich beim damaligen Auftritt nicht wirklich wahrgenommen. Dennoch erinnere ich bei jedem Tatort, bei dem er mitspielt, dass er auf der Demonstration am 04. November 1989 gesprochen hat. Interessant hier, dass sich in den damaligen Aussagen auch schon der weitere Werdegang erkennbar wird.

 

 

https://youtu.be/_0bAmfkI6-g?t=2930
Auftritt von Markus Wolf

Markus Wolf war sicher einer der Starredner dieser Demonstration. Der große Unbekannt der DDR. +++ Als es die DDR nicht mehr gab und die Sowjetunion noch gab und Markus Wolf sich im Exil in Moskau befand, habe ich mal in einer russischen Zeitung einen Artikel über ihn gelesen. In diesem Artikel hat sich mir ein Zitat irgendeines KGB – Mannes eingeprägt. Er sagte über Markus Wolf: „Er ist fast einer von uns“, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass er nicht seinen Geheimdienstkram meinte. Er meinte es kulturell. Das ist die höchste Würdigung, die man als Nichtrusse von einem Russen erfahren kann. Sie ist ganz weit weg vom besoffenen Gerede irgendwelcher Freundschaftstreffen, weit weg auch von allseits bekannten Aufrufen zur Völkerverständigung. Sie begründet sich auf eine weitestgehend gemeinsame Basis, erlesen mit den gleichen Büchern, ersessen in den gleichen Küchen, erredet in endlosen Gesprächen, erträumt am Lagerfeuer und sie ist sehr fragil und fordert eine Grenze. Das „fast“ ist genauso wichtig wie der ganze restliche Satz. +++ Markus Wolf hat in Moskau seine Schulzeit und Jugend verbracht. +++ Das selbstgewählte Exil nach der Wiedervereinigung, mag vielen wie eine selbstauferlegte Strafe vorkommen, was es aber nur eingeschränkt zutrifft. In einer Zeit, als sich die Sowjetunion im Aufbruch und Umbruch befand, wie ganz selten in ihrer Geschichte, war Markus Wolf im Zentrum des Geschehens. Sein Sohn Franz Wolf arbeitet oder arbeitete in leitender Stellung für den russischen Oligarchen Michail Maratowitsch Fridman. Das fällt nicht vom Himmel. Es gründet sich auf den Satz: „Er ist fast einer von uns“ – einen Satz der auch dann noch seine Gültigkeit behält, wenn man sich in gegnerischen Lagern wiederfindet.

https://youtu.be/_0bAmfkI6-g?t=6067

Friedrich Schorlemmer ist Pfarrer und repräsentierte in dieser Demonstration sicher in erster Linie die Kirche. Eingeprägt hat sich damals für uns der hier sinngemäß zitierte Ausspruch: „Die Staatsmacht hat nicht auf die Meinung des Volkes gehört, sondern dieses höchstens abgehört.“ Bemerkenswert ist auch die Leichtigkeit und der Witz seines Auftritts.

 

https://youtu.be/_0bAmfkI6-g?t=7410
Genosse Stalin

Auf der Demonstration wurde auch die deutsche Übersetzung des Liedes „Товарищ Сталин, Вы большой ученный“ von Annekathrin Bürger gesungen (Hat mir das Internet vorgesagt). Es ist übrigens nicht von Bulat Okudschawa. Autor ist ein gewisser Jus Aleschkowsky. Das Lieder wurde von vielen Liedermachern gesungen, darunter u.a. Vladimir Vysotsky und Arkady Severny. Der Vortrag hat mir damals nicht gefallen. Es war mir zu getragen und pathetisch vermutlich aber nahe am Original. Anbei zwei russische Versionen dieses Liedes, die eine vom Autor selbst (Aufnahme aus dem Jahr 2000) und eine von Arkady Severny (Aufnahme aus dem Jahr 1975). Letztere entspricht vermutlich der vorherrschenden Wahrnehmung dieses Liedes in der russischen Gesellschaft.

https://www.youtube.com/watch?v=g1Yy66rAjyc
Genosse Stalin gesungen von Jus Aleschkowsky
https://www.youtube.com/watch?v=UvxVMr0rzpM&t=42s
Genosse Stalin gesungen von Arkady Severny

Es sind noch viele andere Redner aufgetreten, darunter Günther Schabowsky, Kurt Demmler, Christa Wolf und viele Schauspieler und Kulturschaffende. Nicht dabei war Wolf Biermann. Man hatte ihm die Einreise verweigert, wie Bärbel Bohley später sagte. Überhaupt war die eigentliche DDR – Opposition auf dieser Demonstration unterrepräsentiert und wurde durch Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, und Marianne Birthler, Initiative Frieden und Menschenrechte, vertreten. Damit unterschied sich die Demonstration am 04. November 1989 in Berlin deutlich von der Demonstration am 09. Oktober in Leipzig, erstere war organisiert von der Intelligenz und letzter spontan entstanden durch die Bürger.


Für mich war die Demonstration am 04. November 1989 der letzte Versuch einer Änderung der DDR und praktisch der letzte Sonntag, an dem die DDR existierte. Nach der Maueröffnung fünf Tage später war die DDR faktisch in Abwicklung begriffen.

Künstlich durch die Siegermächte des 2.Weltkrieges etabliert und ausschließlich an das System gebunden, machte ihre Existenz mit dem Wegfall des Systems keinen Sinn mehr. Sie löste sich auf.

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Alexanderplatz-Demonstration

https://www.youtube.com/user/HistoryChannelWolf55

Ergänzung / später erst gefunden

https://www.youtube.com/watch?v=2vmyb_9mdp8

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