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The eight mile

Das Schönste an einem Industriearbeitsplatz ist das Reisen, das damit verbunden ist. Man kommt in Gebiete, in die man sonst nie gefahren wäre. Jetzt, wo ich nicht mehr in der Industrie arbeite, ist es das, was mir am meisten fehlt.


Nordamerika. Detroit. Das sind die Großen Drei: Ford, GM, und Chrysler. Das ist Thomas Alva Edison. Und das ist The eight mile. Von den Großen Drei habe ich nur einen Zulieferer gesehen, der auch der Grund dieser Dienstreise war. Das Labor von Thomas Alva Edison im Henry Ford Museum of American Innovation and Greenfield Village habe ich nicht gesehen – dafür hat die Zeit nicht gereicht. Aber ich war auf The eight mile und an den Niagara Falls. Hurra!


Unsere Dienstreise war zu Ende. Es war Donnerstag und Freitag sollte eigentlich der Rückflug stattfinden. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nie in Amerika gewesen war, stach mich der Hafer und ich fragte meine Firma, ob ich nicht noch drei Tage Urlaub anhängen könne. Unglaublich aber wahr – es ging. Also fuhr ich mit meinen zwei Bremer Kollegen zum Flughafen und wir trennten uns.

Begegnung mit dem Weißen Amerika

Mein Plan war ganz einfach. Ich drehe mich auf dem Absatz um und miete mir einem Mietwagen bei Sixt. Das hatten wir immer so gemacht. Das Problem war nur, dass es offensichtlich kein Sixt am Flughafen zu geben schien. Nach verzweifelter Suche sprach ich einen Ami an. Sixt, Sixt – nie gehört! Wie heißt du eigentlich? Nachdem wir uns bekannt gemacht hatten, nahm er mich mit. Wir fuhren mit einem Bus zu einem der außerhalb des Flughafens gelegenen Autovermieter und er managte für mich die Anmietung eines Autos. Seinen Namen habe ich vergessen. Aber er war der erste Mensch, den ich außerhalb der von unserer Mutterfirma organisierten Dienstreiseblase kennenlernte. Unglaublich freundlich und kommunikativ. Für mich das weiße Amerika.

Begegnung mit dem Schwarzen Amerika

Anfang der 2000 Jahre war der Film The eight mile unheimlich populär. Also wollte ich sie in natura sehen – The eight mile. Meine Bremer Kollegen hatten dieses Ansinnen während unserer gemeinsamen Dienstreisetage immer weit von sich gewiesen. Wenn man dann auf The eight mile steht, fragt man sich, was das ganze Tamtam eigentlich soll. The eight mile ist eine Ausfall-/ oder Ringstraße, keine Ahnung. Sie ist jedenfalls unheimlich breit und vollkommen unspektakulär. Sie steht offensichtlich nur für ein Gebiet, indem – so der Film – unheimlich viel Schwarze in einer mehrheitlich von Weißen dominierten Stadt leben. Enttäuscht fuhr ich also in Richtung Zentrum und kam in Viertel, die man mit dem Film The eight mile assoziieren kann. Verfallene Häuser. Stillgelegte Fabriken. Eingeschlagene Fenster. Ich hielt an und macht verstohlen, das Auto immer in Sichtweite behaltend, ein paar Fotos. Eigentlich bekloppt! Die Häuser waren teilweise noch bewohnt und wer will schon in einer Bruchbude fotografiert werden! So kam ich irgendwann zu einer Tankstelle. Und nachdem ich wieder auf der Trasse war, gestikulierten zwei Schwarze in einem Auto hinter mir wie wild und deuteten auf die rechte Seite meines Wagens. Scheiße! Also doch! Der Schreck fuhr mir in alle Glieder. Aber sie hörten nicht auf, also fuhr ich rechts ran. Und sie? Gaben Gas und ließen mich rechts liegen. Ich Idiot hatte vergessen den Tankdeckel zu schließen. Die Gotts verdammte Scheiß Angst, die man auf der Eight Mile als Weißer haben soll, hatte mich abgelenkt 🙂 Das war meine Begegnung mit dem Schwarzen Amerika. Der Idiot war ich.

Begegnungen mit Nordamerika

Detroit liegt an den Großen Seen und es ist nicht weit bis zu den Niagarafällen. Am Sonnabend ging ich in die Spur. Man fährt nicht wirklich schnell in Amerika – 55 oder 60 Meilen pro Stunde. Den konkreten Wert habe ich vergessen. Cool fand ich, dass auf Hinweisschildern immer gleich angezeigt wurde, wieviel diese oder jede Geschwindigkeitsüberschreitung kostet. Und während ich so fahre, sehe ich, dass sich ständig ein Auto hinter mir hält. Komisch. Ich fahre langsamer und er fährt langsamer. Ich fahre schneller und er fährt schneller. Ich fahre noch schneller und er fährt noch schneller. Und da war sie wieder die Angst. Ein Blick auf die Tankanzeige. Ich sollte noch bis zu meinem Ziel kommen, also weiter in Normalgeschwindigkeit. Irgendwann gab er mir Lichthupe und bog ab. Es muss etwas Nordamerikanisches sein, ein unabgesprochenes Kolonnenfahren, wenn man Richtung Norden unterwegs ist. Auf dieser Strecke vollkommen unnötig, im Norden durchaus angebracht. Es schafft Sicherheit in Gegenden mit geringer Verkehrsdichte. Bei meinem Begleiter Gewohnheit, ich kannte es nicht.

Das Großartigste an den Niagarafälle sind sicher die Niagarafälle selbst. Beeindruckend die Geräuschkulisse und beeindruckend der ständige feine Tropfennebel. Noch beeindruckender war jedoch eine jüdische Familie auf Familienausflug – Vater, Mutter, Kind und noch ein Kind. Ich hatte so ein Bild noch nie gesehen und werde es nicht vergessen. Es war wie aus dem Bilderbuch. Orthodoxe Juden. Der Vater mit Kippa und Locken, die Mutter in einem vintageartigen Kleid wie die Kinder auch. Vielleicht war es ein Feiertag für sie, vielleicht ist es auch ihre normale Kleidung. Was für ein tolerantes Land muss das sein, indem verschiedene Religionen vielleicht getrennt nebeneinander und doch weitestgehend unbehelligt und vollkommen frei leben können. Schwer vorstellbar das gleiche Bild in Chemnitz, Berlin, Wien oder Moskau sehen zu können.

Wenn wir heute über Nordamerika sprechen

Dann tun wir das mit einer moralischen Überheblichkeit, die schwer verständlich ist. Wir veranstalten Demonstrationen mit Aufschriften, dass #SchwarzesLebenZählt. Wir geben uns süffisant nachsichtig und besserwisserisch in Talkshows. Was wissen wir eigentlich von Schwarzem Leben in Amerika? Wenig!

Wir wissen, dass ein Schwarzer President werden konnte – Präsident (!), d.h. dass er sich in seiner Partei gegen andere Kandidaten durchsetzen konnte, dass genügend finanzielle Ressourcen für das Führen seines Wahlkampfes von wem auch immer bereitgestellt wurden, und dass sich genügend Wähler fanden, die von seiner Wahl überzeugt waren oder überzeugt werden konnten.

Wir wissen, dass ein Schwarzer Verteidigungsminister der USA werden konnte, d.h. er war nicht nur Verteidigungsminister sondern vorher auch General in der US-Armee, weil man in den USA vermutlich nicht einfach so zum Verteidigungsminister ernannt wird, wie das bei uns der Fall ist, sondern über den entsprechenden Background verfügen muss oder zumindest sollte. Er war also als Schwarzer hochrangiger General in der US – Armee.

Wissen wir eigentlich, wer für die Stadt Minneapolis im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten sitzt, d.h. für die Stadt, in welcher der Mord an dem Afroamerikaner Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten vor laufender Kamera geschah? Seit Januar 2019 sitzt für den 5. Kongresswahlbezirk von Minnesota Frau Ilhan Abdullahi Omar im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten, geboren in Somalia und Migratin in erster Generation, Schwarze und Muslimin.

Gegen welches System wird eigentlich protestiert, wenn das System im konkreten Fall vertreten wird von einer Frau, einer Migratin, einer Schwarzen, einer Muslimin, kurz von einem Menschen, der alle Formen der Diskrimierung, gegen die wir protestieren, in einer Person vereinigt?

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Todesfall_George_Floyd

https://de.wikipedia.org/wiki/Ilhan_Omar

https://de.wikipedia.org/wiki/Repräsentantenhaus_der_Vereinigten_Staaten

 

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