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Sommer ’89

Im Sommer 1989 habe ich mehrere Bürger aus dem westlichen Ausland getroffen: einen Schweizer, einen ukrainischstämmigen Kanadier und einen Bundesbürger. Ich war in Mittelasien im Fangebirge und in Samarkand – ein Traum. Und, meine Frau reiste ein – in die DDR.

Den Schweizer traf ich im Spätfrühling oder Frühsommer in einem Personenzug zwischen Karl-Marx-Stadt und Gera. Es war einer dieser letzten Züge des Tages. Ein echter Lumpensammler und unheimlich langsam. Man musste in Glauchau umsteigen. In Ronneburg stand der Zug länger als der Fahrplan erlaubte, worüber sich weiter vorn im Wagon jemand unheimlich aufregte. Er würde Aktien dieses Saftladens besitzen und nichts würde hier funktionieren usw. Auf meine Bemerkung, dass doch nicht die Abfahrt- sondern die Ankunftszeit die wirklich wichtige Größe sei, setze er sich zu mir. Wir waren die Einzigen zu dieser späten Stunde. Er kam aus der Schweiz, war Geschäftsführer von irgendwas und in Sachen Chips unterwegs. Wie man sich erinnert, war in den letzen Jahren der DDR der 1 MB Chip ein Riesenthema. Mit welchem Chip-know-how der Schweizer unterwegs war, habe ich vergessen. Fest stand nur eins. Der 1 MB war bereits bei Erscheinung hoffnungslos veraltet. Aus heutiger Sicht nachvollziehbar. Es war ein unheimlich interessantes Gespräch. Er besaß, wie bereits erwähnt, Aktien der Deutschen Reichsbahn, ein Mehrfamilienhaus in Gera und verdiente als Geschäftsführer von irgendwas 1 Mio. Schweizer Franken pro Jahr. Er lud mich zum Abendessen ins Interhotel Gera ein. Erinnern kann ich mich an seine Erläuterung des Schweizer Rentensystems, die vermutlich heute noch gilt. Er fand es normal, dass er 10% seines Einkommens (100.000 Schweizer Franken pro Jahr) in das Rentensystem abführte, dabei aber eine unverhältnismäßig geringere Rente zu erwarten hatte (min/ max damals 1000/ 2000 Schweizer Franken pro Monat). Er erzählte mir von der großen weiten Welt und von sechs Wochen Urlaub, die ein Arbeitnehmer im Westen haben würde. Er wünschte mir zum Abschied, dass ich in der DDR immer gut würde leben können.

Den Kanadier mit ukrainischen Wurzeln traf ich in Moskau auf dem Flughafen. Er stammte aus der Ukraine, aus der Westukraine um genau zu sein und war nach 1917 als Kind nach Kanada emigriert. Mit Perestroika und Glasnost und der damit verbundenen Öffnung der Sowjetunion hatte er sein Heimatdorf besucht und war auf dem Rückweg. Er sprach ein langsames und leicht holpriges Russisch. Er sagte mir, dass er in seinem Dorf zwar Traktoren statt Pferde vorgefunden habe, dass sich aber die Dörfer selbst nicht geändert hätte. Der Fortschritt war an den Menschen selbst vorbeigegangen. Die Menschen wohnten in den gleichen einfachen Häusern wie vor der Revolution wie vor 70 Jahren!

Der Bundesbürger stammte aus München. Wir saßen im Flugzeug von Moskau nach Dushanbe nebeneinander. Eine gleiche Sprache in anderssprachiger Umgebung verbindet. Es wäre blöd gewesen, darauf nicht einzugehen. Wir haben uns unterhalten. Er war mit zwei weiteren Kollegen auf Dienstreise, bei einem großen deutschen Konzern angestellt und musste Gruppen- oder Abteilungsleiter gewesen sein. Was sie in Dushanbe besucht haben können, fragte ich nicht und es ist mir auch heute noch ein Rätsel, nachdem ich Dushanbe gesehen habe. Ich befragte ihn zur finanziellen Situation und er erzählte mir, dass man gut hinkommen würde, wenn man keinen Wert auf eine Jacht am Mittelmeer legen und sich auf eine rustikale Berghütte in den Alpen beschränken würde. Wie er einen DDR – Bürgen empfände? Er empfand einen DDR – Bürgen im Sommer 1989 als einen Bürger eines anderen Landes, dem man ein erhöhtes Interesse entgegenbringt. Ich fragte nicht danach, aber ein gemeinsames Land war für uns beide nicht nur kein Thema, selbst der Gedanke daran war nicht vorhanden.


Wir stiegen in Dushanbe aus. Wir waren acht Leute. Vor uns lag eine Traumreise für jeden reisefreudigen DDR – Bürger. Sie führte uns von Dushanbe über das Fangebirge bis nach Samarkand. Und wir trafen auf dieser Reise unheimlich viele DDR – Bürgen und sogar Menschen aus Karl-Marx-Stadt und sogar bekannte Menschen aus Karl-Marx-Stadt. Sie waren nicht so komfortabel wie wir per Flugzeug angereist. Sie hatten nicht mal ein Visum. D.h. sie hatten schon ein Visum, ein Transitvisum nach Rumänien, glaube ich. Mit so einem Visum war es möglich, erstmal in die Sowjetunion reinzukommen und sich dann mit Zügen (!) bis Mittelasien (!) durchzuschlagen. Wie sie Geld getauscht haben, keine Ahnung. Wie sie sich verständigt haben, keine Ahnung. Der Sowjetunion der Perestroika waren ihre eigenen Beschränkungen offensichtlich vollkommen egal. Unser Ziel war der Pik Energie. Der einfachste für einen DDR – Bürger erreichbare Fünftausender. Er ist Teil eines wunderschönen Kessels im Fangebirge mit vier oder fünf Fünftausendern. Wir haben ihn nicht erreicht. Bei 4600 m war Schluss, trotz selbstgebauter Steigeisen und von den Russen gekaufter Eisschrauben. Eine ganz reale Eiswand forderte ganz reale Kenntnisse. Unser Wissensträger war mit seiner Frau schon vorher umgekehrt. Sie hatte sich auf dem Gletscher gefürchtet. Ein zweiter Anlauf fiel aus, weil ein Landsmann beim Abstieg von einem Pass aufs Maul gefallen war und sich verletzt hatte. Mir fiel die Aufgabe zu, einen Esel zu organisieren und den Menschen in die Nähe einer Straße zu bringen. Für den Tagesritt wurde die unglaubliche Summe von 30 Rubeln bezahlt – viel in der Kernsowjetunion und unendlich viel in dieser Einöde, jedoch ein unvergessenes Erlebnis. (Ein Esel ist in den Bergen i.d.R. besser als ein Mensch in den Bergen und geländegängig ohne Ende.)

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Wie auch immer. Die Zeit war abgelaufen. Ich musste zurück. Wir trennten uns am Ausgang dieses Traumkessels. Ich flog zurück nach Donezk. Meine Frau und ich packten einen Container mit Teppich, Nähmaschine und acht wunderbaren 3-Liter-Einweckgläsern – Übersiedlung meiner Frau in die DDR. Bei der Ausreise aus der Sowjetunion gab es irgendwelchen Stress mit dem Zollbeamten. Die Einreise in die DDR am 13.09.89 war unproblematisch.


Meine Freunde habe ich erst deutlich später wiedergesehen. Der Herbst hatte jeden in seine Gedankenwelt katapultiert. Als es aufklarte, trennten sich unsere Welten. Irgendwann verloren wir uns aus den Augen.


09.09.1989
Grenzöffnung Ungarn

03.10.1989
Ausreise Prager Botschaft

09.10.1989
Demonstration Leipzig

17.10.1989
Rücktritt Erich Honeckers

04.11.1989
Demonstration Berlin

09.11.1989
Mauerfall

 

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